„80 bis 90 % der deutschen Bevölkerung wollen raus aus Afghanistan“ (Sigmar Gabriel)

28. November 2009

Sigmar Gabriel hat in seiner Kandidatenrede auf dem SPD-Bundesparteitag am 13. November 2009 in Dresden nach Aufforderung durch Delegierte erklärt: „So, wie es da in Afghanistan weitergeht, wird das am Ende keinen Erfolg haben“.
Er hat zur Kenntnis genommen, „80 bis 90 % der deutschen Bevölkerung – vielleicht auch der Partei – wollen raus aus Afghanistan; das wissen wir.“ Wird es nach dem Verlust von 10 Millionen Wählerstimmen für die SPD seit 1998 nun eine Wende der SPD in der Politik der Unterstützung des Einsatzes deutscher Truppen im Ausland geben? Wird die SPD im Bundestag nun für den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan stimmen?

Nach dem Nein zur Afghanistanpolitik der SPD-Führung – jetzt ein Kurswechsel?

Am 21. November verlautete in verschiedenen Zeitungen: „SPD will Anti-Terror-Einsatz nicht mehr mittragen“ – gemeint war die Ablehnung bei der anstehenden Abstimmung im Bundestag der Operation Enduring Freedom (OEF) durch die SPD-Bundestagsfraktion.
Steinmeier hat vor der Wahl die Parole ausgegeben, „bis 2013 die Bedingungen zu schaffen für den Abzug der Truppen“. Das ist auch die derzeitige Strategie der US-Administration unter Obama, die aber gleichzeitig eine Verstärkung der Kontingente um 44.000 zusätzliche US-Soldaten in Afghanistan (auf 110.000) vorsieht.

Verteidigungsminister Guttenberg seinerseits verlangt als Minister in der schwarz-gelben Regierung, Schluss zu machen mit dem Gerede vom Einsatz mit militärischen Mittel oder bewaffneter Begleitung des Wiederaufbaus in Afghanistan. Er spricht es aus, worum es geht: Es ist Krieg in Afghanistan! Das war bisher ein Problem – nicht nur, weil es verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, sondern vor allem weil es gerichtet ist gegen die Erfahrungen des deutschen Volkes, das nach 1945 geschworen hat „Nie wieder Krieg“.
Warum diese Abkehr von der Verschleierung? Der Einsatz ausländischer Truppen in Afghanistan soll verstärkt werden und deutsche Soldaten sollen sich daran beteiligen. So schlägt Guttenberg vor, weitere 120 Soldaten nach Afghanistan zu schicken.
Die Stationierung der Fregatte Augsburg vor dem Horn von Afrika im Rahmen der OEF mit ihren 270 Besatzungsmitgliedern soll aufgegeben und die Soldaten am Horn von Afrika sollen von 800 auf 700 Soldaten reduziert werden. Wenn die SPD-Fraktion die vollständige Aufgabe von OEF verlangt, sollte man wissen, dass im selben Bereich die Fregatten Bremen und Karlsruhe vor den Küsten Somalias im Rahmen des Kampfs gegen Piraterie stationiert sind (1). Gemessen an den 4.500 Soldaten, die die Bundesregierung für den ISAF-Einsatz vorgesehen hat und jetzt verstärken will, ist eine Aufgabe der OEF rein taktischer Natur und eine Umgruppierung der militärischen Kräfte, die keinen prinzipiellen Kurswechsel bedeuten.

Sigmar Gabriel als neuer Parteivorsitzender sagt in seiner Parteitagsrede: „Wir wollen, dass die UN militärische Interventionen beschließt (und nicht die USA oder die Nato). Das ist die Programmatik der SPD. Nun hat die UN allerdings beschlossen, dass in Afghanistan militärisch interveniert werden soll. (…) Dort zu bleiben ist ganz schlimm, rausgehen ist auch ganz schlimm zurzeit.“ Mit diesem Argumente wurde schon bisher die Respektierung des politischen Willens der Mehrheit der Bevölkerung verweigert: Abzug der deutschen Soldaten aus den Auslandseinsatzen. Und Gabriel sagt, das ist auch weiterhin so.

Die schwarz-gelbe Regierung wird Deutschland immer tiefer in den Kriegseinsatz treiben. Dazu schreibt die Financial Times: „Kurz nach seiner Amtseinführung sagte Guttenberg, die Menschen in Deutschland könnten mehr Wahrheit vertragen. Im Klartext heißt dieser Satz aber: Die Bundesregierung (d.h. die Große Koalition) hat in der Vergangenheit beim Thema Afghanistan gelogen, dass sich die Balken biegen. Das bleibt im Prinzip so, wird aber in der Tendenz weniger“.

Es lagen dem SPD-Bundesparteitag in Dresden viele Anträge gegen den Einsatz in Afghanistan vor.
„Die Antragssteller haben dann wegen des ablehnenden Votums der Antragskommission meist nicht mehr gekämpft“, so Beate Sieweke.
Vor allem auch durch das Eingreifen Gabriels bestätigte schließlich der SPD-Parteitag den Steinmeier Plan, dass bis 2013 „die Grundlage für den Abzug der Bundeswehr geschaffen werden muss“. Doch was heißt das anderes, als dass die Partei- und Fraktionsführung der SPD die Begleitung des Kriegskurses Regierung unter Merkel in dieser Legislaturperiode weiter fortsetzen wird? Während in anderen Ländern der Widerstand der Bevölkerung sich darin niederschlägt, dass Regierungen den Rückzug der Soldaten aus Afghanistan beschließen.

Im Bruch mit den Erfahrungen des deutschen Volkes, was sich auch im Grundgesetz Art.26 niederschlägt (2), wird Deutschland immer offener – jetzt über den verstärkten Kriegseinsatz in Afghanistan – in den Krieg gezogen. Am Anfang, und daran sollte erinnert werden, stand die Entscheidung der Bundesregierung unter Schröder für den Kriegseinsatz in Jugoslawien, der Bombardierung Belgrads und der Zivilbevölkerung.
Die Partei- und Fraktionsführung wird durch ihr Festhalten an dem derzeitigen Kurs des Kriegseinsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan, zu dem „80 bis 90 % der Bevölkerung und der Partei“ Nein sagen, und der in der Wahl eine immense Absage erteilt bekommen hat, die SPD weiter in den Abgrund führen.

Ein Zurück kann es nur durch eine radikale Ablehnung des Einsatzes deutscher Truppen im Ausland geben, was zu aller erst die Ablehnung der Verlängerung der Auslandseinsätze, die im Dezember 2009 im Bundestag anstehen, verlangt.
Nur wenn die SPD verpflichtet wird, sich an die Spitze des Widerstands gegen die Auslandseinsätze zu stellen, wird sie eine Existenzberechtigung haben und einen großen Teil der Wähler und insbesondere der Jugend wieder zurückgewinnen können.

Michael Altmann ist Sprecher der „Initiative GewerkschafterInnen und SozialdemokratInnen sagen Nein zum Krieg“

(1) Die Operation Atalanta, in deren Rahmen zwei Fregatten der Bundeswehr vor Somalia kreisen, ist eine EU-Operation, die den Lissabon-Vertrag vorweggenommen hat, der eine eigenständige EU-Außenpolitik mit eigenen militärischen Kontingenten vorsieht. Das Mandat für die Bundeswehr umfasst 1 400 Soldaten. Die Besatzungsstärke der beiden Fregatten beläuft sich zusammen auf 650 Matrosen.

(2) „Art. 26 Grundgesetz verbietet die Vorbereitung eines Angriffskriegs:
„Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“

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An die Delegierten des SPD-Bundesparteitags 11.-13.11.2009 in Dresden

7. November 2009

Erklärung des SPD-Ortsvereinsvorstands Frankfurt/M.-Nordweststadt-Süd
vom 3. November 2009

Der Vorstand des SPD-Ortsvereins Nordweststadt-Süd diskutierte auf seiner Sitzung am 3. November 2009 – vor dem Hintergrund von weiteren Diskussionen im Oktober – nochmals über das katastrophale Wahlergebnis der Bundestagswahlen vom 27. September 2009 im Hinblick auf die Konsequenzen für den SPD-Bundesparteitag.
Der Ortsvereinsvorstand ist einhellig der Meinung, dass der Verlust von 10 Mio. (der Hälfte der) Wählerstimmen – seitdem 1998 die SPD ein Mandat erhalten hat, die Politik der Regierung Kohl abzulösen – für die SPD die Notwendigkeit aufwirft, eine schonungslose Bilanz der Politik der SPD in den letzten elf Jahren einschließlich der politischen und personellen Konsequenzen daraus zu ziehen, um die traditionellen Wählerinnen und Wähler, insbesondere die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Jugend, die eine politische Interessenvertretung brauchen, wieder zurückzugewinnen.
Der Ortsvereinsvorstand war einhelliger Meinung, dass die einzige Lösung darin bestehen kann, den politischen Kurs der Partei des „Weiter so“ sofort zu stoppen und zu einer Politik der sozialdemokratischen Grundwerte wie Arbeit, Frieden, Bildung und soziale Gerechtigkeit zurückzukehren.
Der SPD-Ortsverein fordert die Delegierten zum SPD-Bundesparteitag auf, den vorliegenden Leitantrag des SPD-Parteivorstands – auch mit den Korrekturen – abzulehnen.
Nach diesem desaströsen Wahlergebnis, bei dem die NichtwählerInnen zur stärksten politischen Kraft geworden sind, kann nicht an erster Stelle stehen: „Wir blicken auf elf Jahre zurück, in denen wir in Deutschland erfolgreich Regierungsverantwortung übernommen haben.“ (Leitantrag)
Im Namen einer „modernen“ und „zukunftssichernden“ Wirtschafts- und Sozialpolitik wurden unter der Regierung Schröder und im Rahmen der Großen Koalition Paradigmenwechsel politisch durchgesetzt, die traditioneller sozialdemokratischer Politik widersprechen und die es nicht vermochten, die Arbeitslosigkeit wirklich zu reduzieren, den Anstieg der Kinder- und Altersarmut zu stoppen oder die dramatische Entwicklung zur Ausweitung des Billiglohnsektors und die Absenkung der Tariflöhne zu verhindern
– im Gegenteil: die Politik der SPD in der Regierung in den letzten elf Jahren hat diese Entwicklungen verstärkt:
+ Die Lohnorientierung der Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft und die Verpflichtung zur Arbeit eingeführt.
+ Die Einführung eines privaten Standbeins der Rentenversicherung („Riester“) hat der Privatisierung der Sozialversicherung die Tür geöffnet, deren Konsequenzen (Altersarmut) mit der Verlängerung des Renteneintrittsalters (Rente 67) absehbar sind.
+ Die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung wurde über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und den Zahnersatz ausgehebelt. Durch die verstärkte Selbstbeteiligung der Patienten und die Schaffung des Gesundheitsfonds sind weitere Schritte in Richtung Abschaffung der paritätischen Finanzierung gemacht worden und erlauben der schwarz-gelben Regierung den endgültigen Ausstieg und damit die Zerstörung des solidarischen sozialen Sicherungssystems.
+ Der Druck der Regierung Schröder auf die Gewerkschaften zur „Reform“ des Flächentarifvertrags BAT, die Zulassung der Ausweitung der Leiharbeit, die „Ein-Euro-Jobs“ haben zur Zersetzung der Flächentarifverträge und die Entwicklung von Billiglohnsektoren geführt.
+ Die „Großen Steuerreformen“ unter Eichel haben die soziale Schieflage, die Umverteilung von „unten“ nach „oben“ vorangetrieben.
+ Die Finanzmarktreformen haben die Spekulation ermöglicht, steuerlich befreit und damit gefördert und sind mit verantwortlich für die Finanzkrise.
+ Die Regierung Schröder / Fischer hat den Einsatz der Bundeswehr im Ausland hoffähig gemacht und Deutschland wieder in den Krieg geführt.
Diese Gesamtpolitik der SPD in der Bundesregierung ist trotz einiger „Korrekturen“ wie die Einführung von Mindestlöhnen und Ausweitung von Kurzarbeit bestimmend.
Diese Gesamtpolitik ist von den Menschen abgewählt worden!!
Dabei haben die Wählerinnen und Wähler der SPD nochmals eine Chance gegeben haben, da sie in ihrer überwiegenden Mehrheit sich der Stimme enthalten haben. Die „Partei der Nichtwähler“ ist nun auch auf Bundesebene die stärkste „Partei“.
Um die traditionellen Wählerinnen und Wähler, insbesondere die ArbeitnehmerInnen und die Jugend für die SPD zurückgewinnen zu können, muss die SPD wieder ihre politische Interessenvertretung werden. Das verlangt angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise, dass die SPD an vorderster Front ein Programm zum Schutz der Mehrheit der Bevölkerung, der ArbeitnehmerInnen – sei es in oder ohne Arbeit, sei es in Ausbildung oder in Rente -, zum Schutz der Arbeitsplätze und Kaufkraft sowie für soziale Gerechtigkeit und Frieden gegen die Angriffe der schwarz-gelben Regierung und die Krise entwickelt.
Wir fordern daher die SPD-Delegierten zum Bundesparteitag auf, den Leitantrag abzulehnen und den Weg frei zu machen für eine gründliche Debatte innerhalb der Partei und mit den SPD-WählerInnen und den ehemaligen SPD-Mitgliedern über die Konsequenzen aus dem Wahlergebnis und Perspektiven sozialdemokratischer Politik auf deren Grundlage ein Programm für das politischen Handeln der SPD und auch eine glaubwürdige – nämlich aus der Debatte hervorgehende – Parteiführung gewählt wird.

Der SPD-Ortsvereinsvorstand
Frankfurt-Nordweststadt-Süd
3. November 2009
Gez. Michael Altmann, Vorsitzender

(siehe auch Rudolf Dreßler zum Basis-Ratschlag in Kassel)